Sportpsychologie im NLZ: Das Spiel, das im Kopf stattfindet
Sonnabend, 08. Februar 2020, 10:00 Uhr
Fußballspiele werden im Kopf entschieden, sagt man. Emotionen steuern den Sport und beeinflussen das Geschehen über die komplette Spieldauer. Im Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) werden unsere Talente schon frühestmöglich von Sportpsychologe Michael Schirmer und Mentaltrainer Daniel Klewer auf Drucksituationen auf dem Platz vorbereitet.
90 Minuten auf dem Platz sind nicht selten mit einer Achterbahn verbunden. Auch Profifußballer erleben in ihrem Arbeitsalltag Höhe- und Tiefpunkte. Ein verschossener Elfmeter, eine vergebene Großchance oder mehrere Fehlpässe in Folge beschäftigen den Sportler. In einer Mannschaftssitzung mit der U16 haben Schirmer und Klewer den Nachwuchsspielern Strategien gezeigt, mit der sie diese Drucksituationen erfolgreich meistern können. Im Interview erklärt das Duo den Kern ihrer Arbeit, den Umgang mit jenen Drucksituationen auf dem Fußballplatz und die Möglichkeiten mentaler Arbeit.
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Moin Ihr beiden, gibt es einen Unterschied zwischen Dir, Michael, als Sportpsychologe und Dir, Daniel, als Mentaltrainer?
Schirmer: "Speziell in Bezug auf den Alltag sind es Feinheiten. Ich bin mehr für Konzepte und Strategien verantwortlich und Daniel bietet auch noch Yoga an."
Und dann steigert Ihr über mentale Arbeit das Leistungsvermögen der Spieler?
Klewer: "Wir geben unseren Spielern Handlungsstrategien an die Hand, die sie in mental schwierigen Situationen auf dem Platz nutzen können. In der Sitzung mit der U16 mussten sich die Spieler eine solche Situation vorstellen und ein individuelles, motivierendes Selbstgespräch erarbeiten, das ihnen in diesen Momenten hilft, zuversichtlicher zu denken."
In der Praxis ist es sicherlich schwer, einen Überblick über alle Nachwuchsspieler zu haben. Wie kommt Ihr mit den Spielern in Kontakt?
Schirmer: "Mit der U14 bis U19 arbeiten wir mindestens zwei Mal pro Jahr mit dem gesamten Team. Außerdem coachen wir auch Kleingruppen, wie zum Beispiel Führungsspieler. Wir machen uns ein Gesamtbild der Mannschaft und des Einzelnen. Es gibt drei Wege, wie die Spieler zu uns kommen: Sie sprechen uns an, wir sprechen sie an oder im Gespräch mit dem Trainer entsteht der Kontakt."
Jeder Mensch ist individuell. Gibt es trotzdem eine Struktur, mit denen Ihr in die Sitzungen geht?
Klewer: "Eine der wichtigsten Voraussetzungen unserer Arbeit ist die Loyalität gegenüber dem Spieler und der verschwiegene Umgang gegenüber anderen. Der Spieler soll das Gefühl haben, in einem vertrauensvollen Umfeld auch mal unangenehme Themen ansprechen zu können. Die Erfahrung zeigt: Je mehr sich der Spieler auf die gemeinsame Arbeit einlassen kann, desto erfolgreicher wird die Zusammenarbeit."
Schirmer: "Die Gespräche sind sehr individuell. Aber es gibt immer Dinge, die man im Blick haben sollte. Aus unserer Perspektive ist es besonders wichtig, dass wir uns auf die Welt des Spielers einlassen und den Prozess professionell gestalten."
Mit welchem Ziel geht Ihr in die Gespräche? Wollt Ihr Schwächen verbessern oder Stärken stärken?
Klewer: "Ein sehr wichtiger Aspekt unserer Arbeit ist die Persönlichkeitsentwicklung. Deswegen unterstützen wir den Spieler bei der Bewusstwerdung des eigenen Ichs, der eigenen Stärken und Potentiale."
Schirmer: "Wir schauen, wo noch Entwicklungsfelder sind. Die können sowohl bei sogenannten Schwächen als auch bei Stärken liegen. Grundsätzlich gilt es, den Jungs Werkzeug an die Hand zu geben, damit sie den mentalen Anforderungen des Wettkampfs gewachsen sind und ihr volles Leistungspotential entfalten können."
In der Sitzung mit der U16 ging es primär darum, mit Drucksituationen umgehen zu können. Kann das jeder lernen?
Klewer: "Das kann jeder lernen, du musst nur den Wert dahinter verstehen und dann die Motivation aufbringen, die mentalen Techniken auch wirklich einzuüben. Deshalb empfehlen wir den Spielern der U16, das eben Erarbeitete auch sofort im Training anzuwenden."
Schirmer: "Es gibt schon mentale Talente, die robust sind, sich gut konzentrieren können und widerstandsfähig sind. Aber jeder kann sich da verbessern. Es ist wichtig, dass die Spieler zum Beispiel lernen, Emotionen für sich zu nutzen, um mit noch mehr Spass und Entschlossenheit ihr Spiel machen zu können."
Also hat jeder Jahrgang unterschiedliche Lern-Etappen in der mentalen Arbeit?
Schirmer: "Ja, jeder Jahrgang hat seinen Schwerpunkt. Diese Schwerpunkte, wie z.B. Emotionsregulation oder Zielsetzung, bauen aufeinander auf. Am Ende sollen die Spieler das entsprechende mentale Rüstzeug zum Profi erlernt haben."
In den letzten Jahren hat sich die Sportpsychologie stark entwickelt. Wie wird sich Euer Bereich künftig verändern?
Klewer: "Zu meiner aktiven Zeit als Profi kannte ich keinen Spieler, der sich bewusst mit dem mentalen Aspekten des Sports auseinandergesetzt hat. Selbst bei mir kam die Einsicht erst während meiner Arbeit als Trainer. Erst da wurde mir bewusst, wie wichtig der Kopf wirklich für eine gute Performance ist. Die kommende Generation von Fussballprofis ist durch die frühe Arbeit in den NLZs schon ganz anders geschult. Für die meisten ist es eine Selbstverständlichkeit geworden, sich auch mit ihren Gedanken und Gefühlen auf Platz auseinanderzusetzen und sich gegebenenfalls mit einem Spezialisten auszutauschen."
Schirmer: "Insgesamt wird der sportpsychologische Bereich im Fußball weiter wachsen. Bei uns entwickelt sich der Bereich sehr gut. Die Spieler sind mental fitter und sowohl bei der Spielerauswahl als auch bei der Spielerentwicklung arbeiten wir daran, weitere entscheidende Schritte zu gehen."
(ms)
Foto: FC St. Pauli / Olli Mueller