Gregor Gysi: „Da hilft nur klare Kante“
Freitag, 13. April 2018, 10:00 Uhr
"Ich bin der klassische deutsche Sachverständige von Fußball: Ich hab' keine Ahnung, schau' mir alles an und weiß alles besser...“ Logisch, dass sich Gregor Gysi als Fan von Union Berlin mit dieser Aussage als Gesprächspartner geradezu empfohlen hat. Vor der Partie unserer Kiezkicker gegen die Eisernen sprachen wir mit dem Politiker der Linken und Mitglied des Bundestages über seine Verbindung zum Fußball und Union, die Bedeutung von Politik im Fußball und seine Kabinenansprache für das morgige Spiel am Millerntor.
Moin Herr Gysi, stellen Sie sich vor, Union verschießt in der 89. Minute eines wichtigen Spiels den entscheidenden Elfmeter. Wie reagiert Gregor Gysi? Laut polternd und das Leben verfluchend, oder in sich gekehrt und leise verzweifelnd?
Ich würde rufen: Nein, das gibt es doch nicht. Danach wäre ich in mich gekehrt und leise verzweifelt.
Ihr erster Stadionbesuch war an der Alten Försterei. Gegen wen ging es?
Vergessen!
Mit was für einem Gefühl haben Sie die Stufen zur Tribüne hinauf betreten?
Ich war vor allem darauf bedacht, einen Platz zu bekommen, von dem aus ich auch etwas sehen konnte vom Spiel. Das ist für mich ja nicht immer so leicht…
Für Fußballfans hat dieses Erlebnis oft einen prägenden Charakter. Was haben die 90 Minuten in Ihnen langfristig ausgelöst?
Erstens eine Verbundenheit mit dem 1. FC Union, zumal ich die Fans zu DDR-Zeiten regelmäßig gegen die Staatsgewalt anwaltlich vertreten musste. Zweitens fiel mir auf, wie schnell 90 Minuten vergehen können.
Genau wie der FC St. Pauli zu seinem Stadtteil hat Union Berlin eine starke Bindung zu Köpenick. Wie wichtig sind Vereine, die sich ihrer Wurzeln bewusst sind?
Ohne diese Vereine und ihre Aktivitäten im Kiez, in der Region, wäre Fußball wohl nur noch das reine Geschäft. Wenn man so will, halten sie die Seele des Fußballs auf der Profiebene aufrecht.
Als Politiker der Linken müssten Sie bei den aktuellen Entwicklungen im weltweiten Fußballgeschäft die Hände vor dem Gesicht zusammenschlagen. Wie konnte es soweit kommen?
Ablösesummen, Gehälter, Beraterhonorare, Öl-Millionen, TV-Milliarden – das ist schon irre, wohin es sich entwickelt, wenn man dem Kommerz alles unterordnet und das Spiel zum Produkt macht. Die Fußballfunktionäre und -manager sind dabei, eine Blase aufzupumpen, die irgendwann platzen wird. Wieviel dann noch vom Kulturgut Fußball übrigbleiben wird, darüber mag ich gar nicht erst nachdenken.
Was wäre Ihr Vorschlag, um die aus den Fugen des Vertretbaren geratende Welt des Fußballs wieder ins Gleichgewicht zu bringen?
Der Überraschungscoup von Andreas Rettig zum Erhalt der 50+1-Regel bietet die Chance, in Deutschland innezuhalten und breit zu diskutieren, welchen Fußball man hier wie organisieren will und welche Rolle man Vereinsmitgliedern und -anhängern dabei einräumt. Dass inzwischen englische Fußballfans nach Deutschland in die Stadien kommen, weil es hier noch Stehplätze und eine Fankultur gibt, sollte den Verantwortlichen im Fußball zu denken geben. Außerdem würde ich den FIFA-Rat nur aus solchen Leuten zusammensetzen, bei denen ich einigermaßen sicher bin, dass sie nicht käuflich sind.
Fußball gilt gemeinhin als verbindendes Element in der Gesellschaft. Wie lange hält diese Verbindung noch?
Unter anderem solange man das Engagement in der Jugendarbeit und generell im Amateurbereich genauso wertschätzt wie die große Bühne Bundesliga. Hier gibt es beim DFB zweifelsohne Nachholbedarf.
Wie in der deutschen Gesellschaft verschieben sich aktuell auch in deutschen Fußballstadien politische Grenzen. Nationalismus und in Teilen Rechtsextremismus werden wieder salonfähig. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?
Bis auf einzelne Ausreißer sind die Versuche, die Kurven von rechts zu übernehmen, bisher gescheitert. Das sehe ich durchaus auch als Verdienst der Ultra-Bewegung an, das beim Umgang mit ihr zu wenig gewürdigt wird. Dennoch gibt es immer wieder rassistische, homophobe oder antisemitische Ausfälle in den Stadien. Allerdings, in St. Pauli nicht. Glückwunsch. Ich wünschte mir, dass die Fans noch deutlicher angehalten werden, untereinander klare Grenzen zu ziehen. Es ist auch aberwitzig, denn in jeder Profimannschaft spielen heute ausländische Spieler.
Wie können Fans, Vereine und Verbände mit dem Problem umgehen?
Ich denke, da hilft nur klare Kante, wie sie auch der Präsident der Frankfurter Eintracht gezeigt hat. Und Engagement im Kleinen für sozial Benachteiligte, Jugendliche, Geflüchtete.
Aus Popularität leitet sich in der Regel Verantwortung ab. Wird der Fußball seiner Verantwortung gerecht?
Auf Vereinsebene meistens ja, auf Verbandsebene tut man sich mitunter schwerer, wenn ich an die Sportgerichtsposse im Nordostdeutschen Fußballverband gegenüber dem SV Babelsberg denke. Und die FIFA muss immer noch erneuert werden.
Schon 1990 waren Sie im Fanladen St. Pauli zu Besuch. Sie haben das Vorwort für das Buch „15 Jahre Fanlanden St. Pauli“ geschrieben und waren auch bei Spielen am Millerntor. Was macht den Verein und vor allem seine Fanszene für Sie aus?
Das Entscheidende ist der Blick über den Fußballtellerrand hinaus. Egal ob bei Übernachtungsplätzen für friedliche G20-Demonstranten, bei der Hilfe für Geflüchtete oder bei der Unterstützung für Deniz Naki gegen die türkische Justiz – man kann sich auf die St. Pauli-Fans und den Verein verlassen, nicht nur die Mannschaft. Außerdem mag ich ihre humorvollen linken Sprüche.
Wie bereitet sich Gregor Gysi auf ein Spiel vor? Werden die Vor- und Nachteile der diametral abkippenden Mittelfeldspieler durchexerziert, oder hoffen Sie auf gute Unterhaltung?
Zunächst dürfen Sie meine in der Männerwelt übliche Unkenntnis nicht vergessen. Das ändert aber nichts daran, dass ich zumindest vor dem Fernseher regelmäßig meine, es besser zu wissen und zwar immer für die Mannschaft, für die ich hoffe. Im Stadion selbst geht es mir um Unterhaltung. Aber natürlich auch um ein gutes Ergebnis. Mit anderen Worten, ich könnte gar nicht erkennen, wann der Mittelfeldspieler diametral abkippt. Ich hoffe auf guten, temporeichen Fußball, was aber im Abstiegskampf schwer ist.
Mit welchen Worten würden Sie Union Berlin heute auf den Rasen am Millerntor schicken?
Ihr seid die einzige Mannschaft, wirklich die einzige Mannschaft auf der Welt, der ich einen Sieg gegen St. Pauli wünsche. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gysi!

25. Mai. 1991: Gregor Gysi erlebt am Millerntor einen 2:0-Heimsieg unseres FCSP gegen den 1. FC Köln
(lf)
Fotos: Witters / Deutscher Bundestag