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Lilian Thuram: "Ich wäre stolz gewesen, das Trikot des FC St. Pauli zu tragen"

Lange Schlangen und große Vorfreude vorm FC St. Pauli-Museum in der Gegengerade: Am Mittwoch (1.6.) stellte Fußball-Weltmeister und Buchautor Lilian Thuram sein Buch "Das Weiße Denken" am Millerntor vor. Mehrere hundert Besucher*innen kamen – und erlebten einen faszinierenden und im wahrsten Sinne des Wortes denkwürdigen Abend. Auf dem YouTube-Kanal des FC St. Pauli-Museums könnt Ihr ihn vollständig nacherleben! Es lohnt sich!

"Incroyable!" ("Unglaublich!"): Für Lilian Thuram war es der erste Besuch beim FC St. Pauli – und der französische Rekordnationalspieler war sichtlich beeindruckt. Vor Beginn seiner Lesung nutzte er die Gelegenheit zu einer Führung durch die KIEZBEBEN-Dauerausstellung im FC St. Pauli-Museum und das Millerntor-Stadion mit Kathrin Deumelandt (Rosa Luxemburg Stiftung, zugleich Moderatorin des Abends), FCSP-Präsident Oke Göttlich und Christoph Nagel, Kurator der Ausstellung und Vorstandsmitglied beim Museumsträger 1910 – Museum für den FC St. Pauli e.V.

Vor der Lesung nahm sich Lilian Thuram Zeit für eine Führung durch die KIEZBEBEN-Ausstellung im FC St. Pauli-Museum und das Millerntor-Stadion.

Vor der Lesung nahm sich Lilian Thuram Zeit für eine Führung durch die KIEZBEBEN-Ausstellung im FC St. Pauli-Museum und das Millerntor-Stadion (Bild ganz oben).

Der Wandel vom reinen Sportverein zur politischen (und natürlich weiterhin auch sportlichen) Plattform als Ergebnis der "Zweiten Geburt" des FC St. Pauli in den 80er- und 90er-Jahren – das ist, wie sich zeigte, auch für Fußball-Legenden eine höchst ungewöhnliche Geschichte. "Die meisten hier sind wahrscheinlich Fans des FC St. Pauli, und ihr könnt wirklich stolz auf euch sein", so Thuram zu Beginn seines Vortrags.

„Aux Armes“: Auch das Hafenstraßen-Segment samt Straßenbarrikade war Teil der Führung.

"Aux Armes": Auch das Hafenstraßen-Segment samt Straßenbarrikade war Teil der Führung.

Im Kampf gegen Rassismus, Faschismus und Diskriminierung gibt es einen großen gemeinsamen Nenner. Mit Thuram selbst ebenso wie mit seiner Stiftung "Èducation contre le rassisme, pour l‘égalité" ("Bildung gegen Rassismus, für Gleichheit"). Was aber sind die Wurzeln des Rassismus? Wie entsteht er, und was macht "Das weiße Denken" aus? Dazu hatte Thuram zahlreiche Denkanstöße mitgebracht, die er in freier Rede zusammen mit eigenen Rassismus-Erfahrungen und historisch-kulturellen Hintergründen verknüpfte und vermittelte.

Mehrere hundert Zuschauer*innen im Foyer und dem FCSP-Museum selbst folgten Thurams Ausführungen (hier mit Moderatorin Kathrin Deumelandt) gebannt.

Mehrere hundert Zuschauer*innen im Foyer und dem FCSP-Museum selbst folgten Thurams Ausführungen (hier mit Moderatorin Kathrin Deumelandt) gebannt.

"In den Geschichtsbüchern lesen wir zum Beispiel: Christoph Kolumbus hat Amerika entdeckt", so Thuram. "Jetzt macht einfach mal einen Moment die Augen zu und stellt euch die Ankunft von Kolumbus aus der Sicht der Menschen vor, die am Strand standen. Die Menschen am Strand sagten nicht: 'Kolumbus hat Amerika entdeckt'. Sie waren schon lange da! Aber Geschichte wird fast immer aus dem Blickwinkel der Reichen erzählt. Und die wollen ihre Macht verteidigen. So wird eine Geschichte erzählt, in der der Blickwinkel der Ärmsten, der Menschen, die am meisten unterdrückt werden, nicht vorkommt."

Dank Simultan-Übersetzung konnten die Zuschauer*innen Lilian Thurams französischen Vortrag auch auf Deutsch verfolgen.

Dank Simultan-Übersetzung konnten die Zuschauer*innen Lilian Thurams französischen Vortrag auch auf Deutsch verfolgen.

Zu dieser Geschichte gehören auch die Kategorien, in denen wir denken und erzählen. Darum ist die Frage "Welche Hautfarbe hast du?", die Thuram an eine Besucherin richtete, in Wahrheit längst nicht so einfach, wie sie scheint. Denn wenn es wirklich "nur" um eine Farbe ginge, würde man "weiße" Menschen kaum als "weiß" bezeichnen, sondern eher als "rosa", so der ehemalige Fußballstar, der selbst erst mit etwa neun Jahren lernte, dass er sich als "schwarz" betrachten solle – und erlebte, welche Diskriminierungserfahrungen aus dieser Zuschreibung resultieren.

Auch vor dem Museum hatte das Team des Museums-Betreibervereins 1910 e.V. Hör- und Sehplätze mit großen Screens eingerichtet.

Auch vor dem Museum hatte das Team des Museums-Betreibervereins 1910 e.V. Hör- und Sehplätze mit großen Screens eingerichtet.

Dabei, sagt Thuram, leiden auch "Weiße" unter einem Denken, das Mensch und Natur vollständig dem Profit und der Machtsicherung unterordnet. Denn letztlich werde so die Lebensgrundlage aller Menschen gefährdet. "Über die Vergangenheit nachzudenken, ist der Schlüssel, um die heutige Gesellschaft zu verstehen und um die Gesellschaft von morgen aufzubauen", so Liliam Thuram. "Wenn wir das nicht machen, wird das derzeitige Wirtschaftssystem zu immer mehr Gewalt führen. Ich glaube, es wird Zeit zu sagen: Stopp! Wir brauchen eine Politik der Solidarität. Eine Politik, die den Menschen ins Zentrum stellt, die sich um die Natur kümmert und die den Wert des Lebens wieder in den Mittelpunkt rückt."

Leider nicht mehr aktiv: Lilian Thuram im Spielertunnel des FC St. Pauli.

Leider nicht mehr aktiv: Lilian Thuram im Spielertunnel des FC St. Pauli.

Die Zuschauer*innen, verteilt auf gleich drei Blöcke vor der Bühne im "Alten Clubheim", im „FCSP-Wohnzimmer am Anfang der KIEZBEBEN-Ausstellung und "open air" unterm Pavillondach vorm FC St. Pauli-Museum, folgten Thurams Ausführungen gebannt. Mit beeindruckender Präsenz und Eloquenz beantwortete er auch zahlreiche Fragen aus dem Publikum – und signierte nach der Lesung gute zwei Stunden lang Bücher, ehe es zu einem abschließenden Imbiss in den "Gang der Wunder" im KIEZBEBEN ging. Für jede*n einzelnen Gast nahm Lilian Thuram sich Zeit und stand mit größter Freundlichkeit für Fotowünsche zur Verfügung.

„Das weiße Denken“ ist in der Edition Nautilus erschienen und für 22 Euro im Buchhandel erhältlich.

"Das weiße Denken" ist in der Edition Nautilus erschienen und für 22 Euro im Buchhandel erhältlich.

Liliam Thuram, der FC St. Pauli und das FC St. Pauli-Museum: Das passte in jeder Hinsicht. Und so bekräftigte er am Ende seines Vortrages, was er eingangs bereits durchblicken ließ: "Ich kann es euch versichern – wenn ich am Ende meiner Karriere wäre, wo man eine Herzens-, eine philosophische Entscheidung treffen kann: Ich hätte mir gut vorstellen können, hier zu spielen. Ich wäre sehr, sehr stolz gewesen, das Trikot des FC St. Pauli zu tragen!"

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Text: 1910 e.V.

Fotos: Sabrina Adeline Nagel

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