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Rebellution – ein anderer Jugendfußball ist möglich 

Für unser Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) steht die neue Saison vor der Tür. Benjamin Liedtke und Fabian Seeger bilden seit dem vergangenen Jahr die Doppelspitze am Brummerskamp. Das Duo hat eine neue Ausbildungskonzeption erarbeitet, die den Titel trägt: Rebellution - ein anderer Jugendfußball ist möglich. Im Doppel-Interview beantworten Liedtke und Seeger, was das Ziel ihrer Rebellution ist.  

Moin Ihr beiden, Eure Diagnose lautet, dass das System Jugendleistungsfußball in Deutschland krank ist. Was sind die Symptome? 

Liedtke: Ich habe 13 Jahre im Nachwuchsleistungszentrum gearbeitet, Fabian über einen ähnlichen Zeitraum in Verbandsstrukturen. Wir haben einen ähnlichen Blick auf den Nachwuchsfußball entwickelt. Wir stellen eine Überprofessionalisierung des Jugendfußballs und eine zu starke Orientierung am Erwachsenenfußball fest. Die Basis der sportlichen Ausbildung, die individualtechnischen und individualtaktischen Ausbildung kommt zu kurz. Der Spieler mit seinen individuellen Motiven steht nicht mehr im Vordergrund. Es geht vielmehr um Matchpläne und Mannschaftstaktiken. Für uns ist das eine Fehlentwicklung. Der Nachwuchsfußball wird mehr und mehr eventisiert und orientiert sich am professionellen Erwachsenenfußball. Eine Entwicklung, die wir gerne umkehren wollen. 

Deswegen habt Ihr als NLZ die Rebellution ausgerufen. Was heißt das? 

Liedtke: Wir wollen für einen anderen Jugendfußball stehen. Wir haben alle Bereiche, Prozesse und Strukturen durchleuchtet und im Sinne einer Ganzheitlichkeit verändert. Über die vergangenen Monate ist eine komplett neue Ausbildungskonzeption entstanden, die mit Spielerprinzipien statt Spielprinzipien den individuellen Spieler in den Vordergrund rückt.  

Seeger: Wir wollen uns am einzelnen Kind oder Jugendlichen orientieren und dessen Individualität in den Vordergrund stellen. Es geht uns in der tagtäglichen Arbeit darum, individuelle Handlungs- und Lösungsstrategien zu erarbeiten, mit denen der Spieler maximal erfolgreich in seiner Ausbildung auf dem Platz vorankommt.  

Die Ausbildung wird also deutlich individueller? 

Seeger: Sie wird mehr aus der Perspektive des Kindes und Jugendlichen gedacht. Wir schauen uns die Spieler genau an: Wo liegen Stärken? Wo liegen Potentiale? Welche Trainingsinhalte und welches Coaching benötigt der Spieler für seinen nächsten Entwicklungsschritte. 

"Wir verändern vom Training auf dem Platz bis zu den administrativen Aufgaben komplett unsere Arbeit"
Benjamin Liedtke

Grundsätzlich würde wohl jedes NLZ behaupten, dass jedes einzelne Kind im Vordergrund steht.  

Liedtke: Der Unterschied liegt in der Umsetzung. Wir haben ein dreiviertel Jahr sehr intensiv an einer Ausbildungskonzeption gearbeitet, die wir jetzt implementieren. Sie wird Zeit brauchen, da sie jeden Arbeitsprozess bei uns im NLZ berührt. Der Verein hat uns diese Zeit gegeben und wir sind davon überzeugt diese ganzheitliche und nachhaltige Ausbildung implementieren zu können.  

Seeger: Die Umsetzung einer großen Vision ist immer schwierig, weil sie ausgehend vom Status Quo durch kleinschrittige Zielsetzungen greifbar sein und möglichst konkret in den Alltag übersetzt werden muss. 

Liedtke: Es ist ein klassischer Change-Prozess. Wir verändern vom Training auf dem Platz bis zu den administrativen Aufgaben komplett unsere Arbeit.  

Und was steht nach diesen zwei Jahren dann unter dem Strich?  

Liedtke: Wir machen Spieler nachhaltig besser. Wir erarbeiten mit ihnen die Kompetenzen, um im Leistungssport bestehen zu können. 

Ein aktueller Kritikpunkt sind Spielerwechsel zwischen den Vereinen. Wir wollen uns auf Spieler aus der Region konzentrieren. Können wir damit konkurrenzfähig bleiben?  

Liedtke: Wir sind davon überzeugt, dass die Metropolregion Hamburg ausreichend Talente bietet. Wir haben in der A- und B-Junioren Bundesliga vermehrt Vereine aus der Region, die keine NLZs sind. Offensichtlich gibt es also einen großen Talente-Pool. Und wir glauben, dass wir als Stadtteilverein mit diesen Spielern viel eher unsere Ausbildungsvisionen umsetzen können. Wir möchten auf Spieler setzen, die sich mit unserer Ausbildung und dem FC St. Pauli identifizieren.  

Mit Franz Roggow ist einer der drei aktuellen Lizenzspieler aus dem Nachwuchs aus Cottbus zu uns gekommen. Schließt Ihr diese Zugänge kategorisch aus? 

Liedtke: Auch in diesem Fall bestätigen Ausnahmen die Regel. Grundsätzlich sind alle Strukturen auch im Scouting und der Kaderplanung darauf aus, uns mit Hamburger Spielern zu beschäftigen. Das heißt aber nicht, dass Spieler nicht auch aus anderen Regionen interessant werden. Das Jugendtalenthaus wird auch in geringerer Besetzung fortgeführt.  

Spaß am Spiel: Die U17 im Laufe ihrer Sommervorbereitung.

Spaß am Spiel: Die U17 im Laufe ihrer Sommervorbereitung.

Nur weil der FC St. Pauli für sich beschließt, nur Spieler aus Hamburg und Umgebung zu holen, werden sich andere Vereine nicht an diese Spielregeln halten. Wie überzeugt Ihr die Spieler am Brummerskamp zu bleiben? 

Seeger: Wir versuchen eine gute und intensive Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen, ihren Eltern und den Personen in ihrem Umfeld zu pflegen. Wir wollen der entscheidende Partner sein, der sich an Bedürfnissen orientiert und somit die Weiterentwicklung des Talents optimal begleitet. 

Und trotzdem werden Spieler von anderen Vereinen umworben und nach Dortmund, Mönchengladbach, München & Co wechseln.  

Liedtke: Unsere Arbeit spricht für sich. Ich möchte gar nicht diese Einbahnstraße: Der Spieler muss uns überzeugen, dass wir ihn ausbilden. Dafür muss er bereit sein und viel investieren. Unsere Aufgabe ist es, ihm das beste Paket anzubieten. Ich bin aber völlig weg davon, Spieler aufzuhalten, die gehen wollen.  

Ein weiterer spannender Punkt ist die Orientierung an der körperlichen Entwicklung. Wie können Unterschiede aufgefangen werden?  

Liedtke: Der erste Schritt ist, dass wir uns in den Altersklassen U12 bis U16 frei von Ergebnissen machen wollen. Dadurch können wir Spielern Spielzeit geben, die körperlich eher einen Nachteil haben. Das gibt uns die Möglichkeiten, jahrgangsübergreifend Training und Wettbewerbe anzubieten und nicht mehr starr pro Jahrgang zu denken. 

Seeger: Der Schlüssel ist Aufgabenqualität: Kein Spieler soll über- oder unterfordert werden. Die Aufgabe muss passen. Das kann sowohl im Training als auch im Wettkampf dargestellt werden, wenn beispielsweise altersübergreifend trainiert oder gespielt wird.  

"Wir müssen zurück zu einem gesunden Verhältnis zwischen Ergebnis und Entwicklung finden"
Fabian Seeger

Dennoch wird ein Trainer immer auch an seinen Ergebnissen gemessen und verliert im Zweifel das Hauptziel der Entwicklung aus den Augen.  

Seeger: Ein Ergebnis und sich zu messen, zählt zum Fußball dazu. Wir müssen zurück zu einem gesunden Verhältnis zwischen Ergebnis und Entwicklung finden.  

Liedtke: Wir wollen schon in den Ligen vertreten sein. Der Klassenerhalt ist uns wichtig, darüber hinaus darf die Platzierung aber keine Rolle spielen. Alles andere ist nicht maßgeblich in der Bewertung.  

Seeger: Wir alle befinden uns in einem Change-Prozess, der uns allen viel abverlangt. Wir glauben das er nötig ist. Wir merken, dass unsere Trainer*innen offen und bereit sind. Wir erleben sehr motivierte Trainerteams, die unsere neue Ausrichtung in der kommenden Saison umzusetzen wollen. 

Ihr habt Euch vorgenommen, einen eigenen Fußball-Style zu spielen. Worauf dürfen wir uns freuen?  

Seeger: Alles, was wir mit den Spielern entwickeln, mündet in unser Spiel. Im Optimalfall haben wir am Ende mutige, selbstbewusste und spielkompetente Spieler. Ihre selbstständigen und kreativen Entscheidungen führen dann zu einem einzigartigen Spielstil.  

Also gibt es keinen klaren Spielstil, für den der Nachwuchsfußball beim FC St. Pauli steht. 

Liedtke: Wir wollen eine Identität auf den Platz bringen: Wir wollen intensiv spielen, Zweikämpfe führen und mit voller Leidenschaft auftreten. Unsere Mannschaften werden aber unterschiedliche Stile haben, weil das von der Spielerqualität und vom Spielertyp abhängig ist. Wir werden daher für unsere Individualität stehen. 

Ein NLZ wird am Ende auch daran gemessen, wie viele Spieler bei der Lizenzmannschaft ankommen.  

Liedtke: Wenn Spieler in den professionellen Bereich übergehen, ist das ein Produkt unserer Arbeit. Es ist aber nicht das grundsätzliche Ziel. Wir wollen dafür stehen, dass wir unsere Spieler auf der Grundlage ihrer Individualität besser machen. Und wenn am Ende des Tages mehr Spieler oben ankommen, freuen wir uns.  

Benni, Fabi - vielen Dank für das Gespräch! 

 

(ms)

Fotos: FC St. Pauli

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