"Wir waren nervös, weil wir wussten, es könnte passieren"
Dienstag, 01. Juni 2021, 13:00 Uhr
Am Tag seiner ersten spürbaren Berührung mit dem Profifußball steht Christian Viet auf dem Rasen vor dem Gästeblock im Bochumer Ruhrstadion. "Plötzlich", erinnert er sich, "waren wir dabei." Der Arm rechts bei Bernd Nehrig und links bei Aziz Bouhaddouz eingehakt, vor ihm ein tobender Gästeblock in der Ekstase des Saisonausklangs, alle gemeinsam feiern einen 3:1-Sieg über den VfL Bochum. Ein wohl unvergesslicher Moment für den damals 18-jährigen Viet, auch wenn dieser 17. Mai 2017 nicht der Tag seines Profidebüts wurde. Darauf musste der Buxtehuder drei weitere Jahre hart hinarbeiten, um am Ende dann doch in Bochum zu debütieren.
Vor dem Platz im Profikader in Bochum spielte das Thema Profifußball im Leben von Christian Viet noch keine wirkliche Rolle. Als C-Jugendlicher hatte er noch Angebote höher zu spielen abgelehnt und blieb beim ambitionierten Jugendförderverein Ahlerstedt/Ottendorf/Heeslingen im Landkreis Stade/Rotenburg. Auch um weiter mit seinen Freunden zusammen Fußball zu spielen. Erst zur Halbserie seiner ersten U19-Saison entschloss sich Viet für einen Wechsel zum FC St. Pauli. "Ich wollte eigentlich nur höher Fußball spielen", erklärt Viet. "Aber ich hätte nie gedacht, dass das mit dem Profifußball was wird."
Nur vier Monate, elf Junioren-Bundesligaspiele und einen Pokal-Triumph mit der U19 später stand er also gemeinsam mit seinem U19-Teamkollegen Jakob Münzner in Bochum im Zweitliga-Kader. Vor dem Spiel sei Ewald Lienen, der damalige Cheftrainer, zu den beiden Neulingen gekommen und habe ihnen gesagt, dass sie kurz vor dem Ende eingewechselt werden, wenn das Team in Rückstand liegt. "Ich war sehr aufgeregt", sagt Viet. "Wir waren nervös, weil wir wussten, dass es passieren könnte."
An diesem Tag blieb der erste Profi-Einsatz aus, das ungeahnte Ziel war aber plötzlich greifbar. Im ersten halben Jahr bei St. Pauli arbeitete Viet viel im körperlichen Bereich und legte zehn Kilogramm zu. An das höhere Spielniveau nach seinem Wechsel zu Braun und Weiß musste er sich vor allem körperlich gewöhnen. "Der Zwischenschritt über die U23 war für mich daher auch sehr wichtig", betont Viet. "Ich war körperlich zu dem Zeitpunkt noch nicht in der Lage, höher zu spielen, und musste mich daran gewöhnen. Man hört ja immer öfter, dass Spieler über die Regionalliga hochkommen."
Mit konstant guten Leistungen in der U23 unter Joachim Philipkowski empfahl sich Viet später über das Profitraining für sein erstes Zweitliga-Spiel. Schließlich wurde der 5. Juni 2020 der Tag, an dem der Traum vom ersten Profispiel in Erfüllung ging. Jos Luhukay schickte den damals 21-Jährigen von Beginn an auf den Platz, ein Auswärtsspiel im Ruhrstadion beim VfL Bochum (0:2). "Ich war sehr glücklich, aber ich war auch bereit und habe mich einfach auf das Spiel gefreut", sagt Viet rückblickend. "Es war am Anfang zwar komisch, weil kein Publikum da war, aber wenn das Spiel anfängt, hast du keine anderen Gedanken mehr im Kopf."
Ein Makel in der noch jungen Karriere von Christian Viet ist, dass er als Debütant während der Corona-Pandemie noch nicht vor einer vollen Millerntor-Kulisse aufgelaufen ist. "Ich will das unbedingt erleben", betont Viet. "Ich kann mich noch erinnern, als Flo, Ersin (Anm. d. Red.: Florian Carstens, Ersin Zehir) und Christian Conteh vor ausverkauftem Haus gespielt haben. Ich hatte Gänsehaut, weil ich mich für die Jungs mitgefreut habe. Wenn sich das schon von der Tribüne so anfühlt, wie muss das dann erst auf dem Platz sein?"
Um diese Frage irgendwann beantworten zu können, will der 22-Jährige dranbleiben. Einer seiner Vorteile ist sein flexibles Positionsspiel, er hat schon auf beiden Flügel- und Außenverteidigerseiten gespielt, bei der Lizenzmannschaft kam Viet vor allem als "Achter" in der Raute zum Einsatz. "Die Flexibilität ist zwar eine meiner Stärken", weiß Viet, "aber trotzdem brauche ich für mich meine Position. Am wohlsten fühle ich mich auf der Acht oder hinten rechts."
Das Wichtigste für den ehemaligen NLZ-Spieler ist jedoch, so viele Einsatzzeiten wie möglich zu bekommen. "An den ersten 32 Spieltagen fast nur zuzuschauen, ist für einen selbst nicht einfach", verrät Viet, der sich trotz der zum Saisonende Spielminuten auch gut mit der Sommerpause arrangieren kann. "Die Pause tut gut, weil wir auch keine richtige Winterpause hatten. Das ist zum Abschalten ganz gut, um dann wieder Gas zu geben." Dann mit dem Ziel, die Nummer 29 in der neuen Saison wieder häufiger auf dem Platz zu sehen. Nur auf ein Wiedersehen mit dem Bochumer Ruhrstadion muss Viet vorerst verzichten.
(ms)
Foto: FC St. Pauli / Witters